Shok-1

[UK]

- DAS WERK -

Radium

TITEL: Radium

TECHNIK: SPRAY IN FREIHANDTECHNIK

ENTSTEHUNGSJAHR: 2021

STANDORT: Rue des Envers 63

FLÄCHE: 50 m2

Der international bekannte britische Street-Art-Künstler SHOK-1 ist ein wahrer Meister darin, die düstere Schönheit medizinischer Röntgenbilder mit Sprühfarbe einzufangen. Er beherrscht seine Kunst so gut, dass er freihändig arbeiten und frappierend realistische Bilder anfertigen kann, die ihm bereits Lob und Anerkennung zahlreicher Wissenschaftler eingebracht haben. Mit seinem einzigartigen Stil, auch «X-Ray-Art» genannt, ist er genau der richtige Künstler, wenn es darum geht, den Opfern des Radiums Tribut zu zollen. Das von der Uhrenindustrie mehr als ein halbes Jahrhundert lang eingesetzte radioaktive Metall, das Basis der Strahlentherapie ist, schädigte die Gesundheit Tausender mit Radium arbeitender Frauen, der sogenannten «Radium-Malerinnen» oder «Radium Girls».

Aus philosophischer Sicht erinnert die unheilvolle Allianz zwischen Radium und Uhrmacherei an andere Entdeckungen oder Erfindungen, die zunächst als «wissenschaftlicher und technologischer Fortschritt» gefeiert wurden, bevor man erkannte, dass sie schwerwiegende Auswirkungen auf die Gesundheit und die Umwelt haben.

Das auf einer abgewinkelten Wand angebrachte Fresko von SHOK-1 erinnert an ein Diptychon. Auf dem ersten Wandabschnitt trägt die Hand einer Radium-Malerin radioaktive Farbe auf das Zifferblatt einer Uhr auf, um es zum Leuchten zu bringen. Getreu seinem Stil hat SHOK-1 diese Hand ihres Fleisches beraubt, damit die Knochen sichtbar werden. Ohne diese Hülle, die ihr Rundungen, Weiblichkeit und Sinnlichkeit verleiht, verwandelt sich diese Hand in eine kalte Mechanik, eine Roboterhand, eine Zange, mit der ihr das Leben entzogen wurde, das wir so fest mit dem Körper verbunden glaubten.

Seit Menschengedenken stehen Schädel und Skelette für den Tod. Sinnbildlich beweisen Röntgenstrahlen, dass der Tod direkt unter dem Lebenden liegt. So ist es, als wüsste man bei Betrachtung des Inneren der Hand dieser Radium-Malerin gleich um ihr tragisches Schicksal. Gläsern und durchsichtig, wirkt diese Hand auf alle, die mit Röntgenbildern nicht vertraut sind, etwas abstrakt. Gleich einer Metapher bleibt ein grosser Teil des Geheimnisses des Lebens jedoch trotz des durchdringenden Blickes der Wissenschaft bestehen. Ist das Thema auch sehr ernst, hat das Fresko von SHOK-1 nichts Morbides. Die elegante Ästhetik des Künstlers erzeugt eine Poesie, die stärker ist als das traurige Gefühl ob unserer Sterblichkeit. Und diese Hand ist nicht die einer Toten, denn sie hält sehr geschickt einen Pinsel. Die Bewegung, die durch die Abfolge und das Übereinanderlegen transparenter Formen entsteht, scheint ihr Leben einzuhauchen. Auf dem zweiten, vertikalen Wandabschnitt findet sich das Röntgenbild einer Blume, die für die Weiblichkeit steht. Der Stängel der Blume ist abgeschnitten. Genau wie bei den Radium-Malerinnen hat auch hier eine unheilvolle Hand die Blume dem Leben entrissen. Wie ein Rechtsmediziner hat SHOK-1 sie seziert und ihr das Erscheinungsbild eines Piktogramms gegeben – eines Piktogramms der Radioaktivität. Diese «geometrischen Abtragungen» von Bestandteilen der Blume symbolisieren die Schmähungen und die furchtbaren Schmerzen, die die Radium-Malerinnen erleiden mussten.

Zur Erstellung des Freskos hat SHOK-1 eine Farbpalette verwendet, die das grünliche Leuchten des Radiums originalgetreu abbildet. Der Künstler hat seine Komposition auf schwarzen Hintergrund gemalt – war es durch das Radium doch möglich, die Uhrzeit im Dunkeln abzulesen. Aus topologischer Sicht verstärken die das Fresko umgebenden Büsche noch einmal den Eindruck, sich an einer Gedenkstätte zu befinden.
© exomusée – Januar 2022 – Redaktion: François Balmer – Übersetzung: Proverb, Heiler & Co

KLEINE GESCHICHTE DES RADIUMS

Radium ist ein stark radioaktives Metall, das 1898 von Marie Curie und ihrem Ehemann Pierre entdeckt wurde. Anfang des 20. Jahrhunderts erlebte es einen regelrechten Hype. Jahrzehntelang wurde es in der Not-/Rettungssignalgebung, in Blitzableitern und in Rauchmeldern verwendet. Radium wurden therapeutische Eigenschaften zugeschrieben, und so fand es Einsatz in verjüngenden Cremes, Zigaretten, Limonaden, Zahnpasta, Badesalz, Babypuder. Sogar spezielle Zubereiter zur Herstellung radioaktiven Trinkwassers wurden erfunden.

Auch in der Uhrenindustrie glaubte man, eine Eigenschaft des Radiums gewinnbringend nutzen zu können: seine Radiolumineszenz. Von 1918 bis 1963 beschäftigte die Branche Tausende von Frauen – billige, flexible und gewissenhafte Arbeitskräfte. Die Arbeit dieser «Radium-Malerinnen» bestand darin, eine dünne Schicht von mit Radium versetzter Farbe auf die Zeiger und Ziffern aufzutragen, damit die Uhrzeit auch im Dunkeln abgelesen werden kann. Hierfür verwendeten diese Arbeiterinnen feine Pinsel, die sie mit Lippen und Zunge anspitzten, um mit der nötigen Präzision arbeiten zu können. Auf diese Weise gelangten jedes Mal auch kleine Mengen Radium in ihren Körper. Die chronische Strahlenbelastung, der sie im Laufe ihres Lebens ausgesetzt waren, überstieg dabei die für die Opfer des Atombombenabwurfs über Hiroshima tödliche Strahlendosis. Die Geschäftsführer und Führungskräfte in den Uhrenunternehmen wussten um die Gefahr, die von diesem Metall ausging, doch die Arbeiterinnen wurden hierüber nicht informiert, im Gegenteil: Die in der Fabrik hergestellte tödliche Farbe wurde ihnen als derart harmlos verkauft, dass sie sie auch zu Hause nutzten, um Lichtschalter zu markieren, die Haare von Puppen zu «verschönern», Sterne an die Decke von Kinderzimmern zu malen und sie – zur Erheiterung ihres Umfelds – sogar auf Nägel, Zähne und Gesicht aufzutragen.

Da sich die grössten Uhrenfabriken im 20. Jahrhundert in den Vereinigten Staaten befanden, gab es hier natürlich auch die meisten Opfer. Um eine Entschädigung zu erhalten, mussten die Radium-Malerinnen, die gesundheitliche Schäden davongetragen hatten, einen langen und ermüdenden Rechtsstreit führen. Wenn wirtschaftliche Interessen im Spiel sind, ist der Nachweis eines kausalen Zusammenhangs zwischen einer beruflichen Tätigkeit und einer Erkrankung immer schwierig (wie sich etwa beim Thema Asbest anschaulich gezeigt hat). Bei den Radium-Malerinnen liess sich dieser kausale Zusammenhang wissenschaftlich nachweisen und der «Radiumkiefer» (Englisch «Radium jaw») wurde als Berufskrankheit anerkannt. In den Vereinigten Staaten nehmen die Geschehnisse rund um die «Radium Girls» sowohl in der Geschichte des Kampfes für Arbeitnehmerrechte als auch im Gesundheitsbereich einen zentralen Platz ein.

In Le Locle, Arbeiterstadt und Wiege der Uhrmacherei, hat das Radium ebenfalls Spuren hinterlassen. Bis in die 60er-Jahre waren Wohnungen mit diesem Gift kontaminiert, da Heimarbeit in der Uhrenindustrie weit verbreitet war. Als die Gefährlichkeit von Radium öffentlich bekannt wurde, gaben die Radium-Malerinnen die Arbeit mit dem Pinsel auf und nutzten stattdessen feine Glasröhrchen.

1963 wurde Radium schliesslich verboten. Ersetzt wurde es durch das schwach radioaktive, für die Gesundheit aber wohl nicht schädliche Tritium. Ab 1993 kam in der schweizerischen Uhrenindustrie dann in erster Linie LumiNova zum Einsatz, eine aus Strontiumaluminat bestehende, nicht toxische und auch nicht radioaktive Leuchtfarbe. 2007 kam dann das noch stärker leuchtende SuperLumiNova auf den Markt.

In der Schweiz gibt es keine Statistiken zur Anzahl der Radium-Opfer. 2015 bis 2019 lief eine von der Schweizerischen Eidgenossenschaft finanzierte Kampagne zur Sanierung und Dekontaminierung aller von der Verunreinigung mit Radium betroffenen Gebäude. Diese Kampagne wurde bis 2022 verlängert.
© exomusée – Januar 2022 – Redaktion: François Balmer – Übersetzung: Proverb, Heiler & Co

Rue des Envers 63

- DER KÜNSTLER -

SHOK-1

«Pionier der X-Ray-Graffitikunst seit 1984.» So beschreibt SHOK-1 seine Arbeit als Street-Art-Künstler. 1970 im Vereinigten Königreich geboren, hat diese Ikone der Street-Art – ganz Autodidakt – bereits mit dreizehn Jahren begonnen, seine Bilder in den Strassen an Wände und Mauern zu sprühen. Als echter Wegbereiter dieser Kunstform war SHOK-1 einer der ersten Europäer, die dazu beigetragen haben, Street-Art zu einer der weltweit bedeutendsten Kunstrichtungen zu machen.

Anfang der 80er-Jahre versucht sich SHOK-1, stark beeinflusst von der Graffiti-Bewegung und ganz allgemein von der lebendigen «street culture» der Vereinigten Staaten, an verschiedenen Maltechniken. Ab 1989 malt er auch im Ausland, insbesondere bei seinen Reisen in die Vereinigten Staaten und nach China. 2009 entwickelt er eine einzigartige Technik zur Darstellung von Röntgenbildern. Sein neuer Stil «X-Ray» erregt grosses Aufsehen. Es ist der Beginn seiner Karriere.

SHOK-1 baut eine Brücke zwischen Wissenschaft und Street-Art und erreicht damit ein grosses Publikum: Fans der Popkultur, Liebhaber von zeitgenössischer Kunst und Street-Art, Chirurgen, Radiologen und Wissenschaftler sind von seiner Arbeit gleichermassen begeistert. Der Künstler möchte das menschliche Skelett so originalgetreu wie möglich abbilden, ist die anatomisch exakte Darstellung für die aus der Welt der Medizin stammenden Bewunderer seiner Kunst doch besonders wichtig. Diese Expertenschar lässt in den sozialen Netzwerken keine Möglichkeit ungenutzt, auf die kleinste morphologische Anomalie hinzuweisen, was SHOK-1 nur noch mehr motiviert, stets mit der wissenschaftlich grösstmöglichen Präzision zu arbeiten. Zu diesem Zweck hat der Künstler im Laufe der Jahre eine umfassende Sammlung an Röntgenbildern zusammengetragen.

Als Freund der Wissenschaft ist SHOK-1 in einer Zeit, in der, wie er sagt, «der Anti-Intellektualismus zunimmt, Wissenschaftler zum Schweigen gebracht werden und Experten zugunsten der Meinung von Laien an den Pranger gestellt werden» ein entschiedener Verfechter des Rationalismus. Die Faszination von SHOK-1 für die Wissenschaft hat sicherlich ihren Teil zu seinem Interesse an medizinischen Röntgenaufnahmen beigetragen. «Ob ein Röntgenbild nun Positives oder Negatives enthüllt, so steht es doch stets für die Wahrheit. Und wenn die Wahrheit aus Sicht der Medizin von entscheidender Bedeutung ist, dann ist sie es auch für die Gesellschaft im Allgemeinen», erklärt der Künstler.

Die Kunst von SHOK-1 offenbart, was für das blosse Auge nicht sichtbar ist. Durch das «Röntgen» zeitgenössischer Gegenstände wie etwa Spielzeuge hinterfragt der Künstler unser materialistisches und konsumorientiertes Denken. Sein künstlerisches Schaffen kommt dabei sinnbildlich einer Diagnose des Lebens im 21. Jahrhundert gleich. Seine von Blumen-Röntgenbildern inspirierten Werke zeigen die zarte Schönheit der Natur unter einem ganz neuen Blickwinkel. Wenn SHOK-1 den Stängel der Blume durch Stacheldraht ersetzt, erinnert er damit an die Neigung des Menschen, die Schönheit, die Reinheit und die Harmonie zu pervertieren.

Als Perfektionist beschäftigt sich SHOK-1 eingehend mit den von ihm aufgegriffenen Themen. Von der Idee über die Analyse Dutzender Röntgenbilder bis hin zu einer Vielzahl an Entwürfen – seine Werke sind stets das Ergebnis eines langen kreativen Prozesses.

SHOK-1, der in London lebt, hat ein Diplom in angewandter Chemie.
© exomusée – Januar 2022 – Redaktion: François Balmer – Übersetzung: Proverb, Heiler & Co
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