Onur

[CH]

- DAS WERK -

Origin

TITEL: origin [URSPRUNG]

TECHNIK: MALEREI

ENTSTEHUNGSJAHR: 2021

STANDORT: Rue Jehan Droz

FLÄCHE: 32 m2

Der Solothurner Maler Onur, ein aufstrebender Künstler der schweizerischen Street-Art-Szene, hat in Le Locle ein Werk geschaffen, das uns in den Mikrokosmos eines Uhrmachers vergangener Zeiten versetzt, dabei jedoch auch die Themen Naturschutz und Wissensweitergabe zwischen den Völkern aufgreift. Mit der Schaffung dieser grenzübergreifenden Landschaft erinnert Onur daran, dass die Uhrmacherkunst Ende des 17. Jahrhunderts von den französischen Hugenotten in die Neuenburger Berge gebracht wurde und dass sich dieses exklusive Handwerk seither auf einem gewinnbringenden Austausch zwischen Frankreich und der Schweiz gründet. In der Grenzstadt Le Locle, in der es gewisse nationalistische Spannungen gibt, die bisweilen zu Kritik an eben diesen Berufspendlern führen, ist es daher gut, daran zu erinnern, dass die Uhrmacherei ein gemeinsames Abenteuer beider Länder ist und dass das benachbarte Frankreich eine wichtige Bezugsquelle für qualifizierte Arbeitskräfte ist, die für die lokale Wirtschaft unverzichtbar sind. Um die soziologische Dimension des Freskos von Onur zu verstehen, gilt es also, in die Vergangenheit zu reisen und sich mit unserer Beziehung zur Umwelt auseinanderzusetzen.

DER UHRMACHER, DIE NATUR UND DIE GRENZE

Im Vordergrund des Werkes scheinen die vom Licht einer Argand-Lampe (Öllampe) angestrahlten Hände des Uhrmachers aus dem Fresko zu ragen. Mit der Wahl dieses Motivs zollt Onur dem Können und dem handwerklichen Geschick der Uhrmacher Anerkennung.

Seit Mitte des 20. Jahrhunderts tragen die Uhrmacher bei ihrer Arbeit weisse Kittel, womit sie fast ein wenig an Ärzte erinnern. Onur jedoch wollte weg von dieser klinischen, sterilen Welt, weshalb er einen Uhrmacher aus dem 19. Jahrhundert dargestellt hat. Dieser Uhrmacher mit Hemd, Krawatte, Baskenmütze und blauem Kittel – ein Kittel, der sinnbildlich für die Welt der Arbeiter, ja gar der Bauern steht – sitzt an einer Werkbank, die sich in eine typische Landschaft der Neuenburger Berge verwandelt hat, in diesem Fall in einen Abschnitt des vom Doubs durchzogenen Tals – dem Fluss, der über fünfzig Kilometer, von Le Locle bis nach Soubey im Kanton Jura, die natürliche Grenze zwischen Frankreich und der Schweiz bildet.

Wie an allen Orten, an denen sich der Mensch niederlässt, ist auch hier die Natur, wie wir sie sehen, nur noch ein Abbild des menschlichen Wirkens, das sie verändert hat. Mithilfe seiner Pinzetten und seinem Okular, allgemein auch als «Micros» (Aussprache «Mikròs») bezeichnet, bemüht sich der von Onur geschaffene Uhrmacher die Natur mit all ihren Feinheiten und Details darzustellen, als würde er ein Modell erschaffen. Dabei lässt er grösste Sorgfalt walten, ein wenig wie ein gütiger Gott. Mit dieser Metapher möchte Onur zum Ausdruck bringen, dass der Handwerker – und im weiteren Sinne der Mensch im Allgemeinen – der Natur dieselbe Aufmerksamkeit, Fürsorge und Liebe zukommen lassen sollte, die er auch seinen materiellen Werken schenkt.

DAS ERBE DER HUGENOTTEN

Ist die Uhrmacherei heute auch der wichtigste Industriezweig der Neuenburger Berge, brach die Ära der schweizerischen Uhrmacherei jedoch in Genf im Jahr 1541 an, als Johannes Calvin den Prunk verbot, darunter auch das Tragen von Schmuck. Uhren, die leicht unter der Kleidung versteckt werden konnten, waren von diesem Verbot jedoch ausgenommen. So fanden die Genfer Goldschmiede in der Uhrmacherei einen Weg, ihren Beruf weiter auszuüben. Diese geschäftliche Neuorientierung wäre zu dieser Zeit allerdings nicht möglich gewesen, wenn in der Calvin-Stadt nicht zahlreiche Hugenotten gelebt hätten – Protestanten aus Frankreich, die vor der Verfolgung durch die Katholiken geflohen waren. Denn unter diesen Geflohenen fanden sich zahlreiche Uhrmacher und Handwerker, die den Genfer Goldschmieden die Neuausrichtung ihres Gewerbes mit ihrem Können und ihrer Findigkeit überhaupt erst ermöglichten. Ist die Uhrmacherei auch ein Teil der Schweizer Identität, so sollte nicht in Vergessenheit geraten, welchen Beitrag diese Franzosen zum Erfolg dieses «typisch schweizerischen» Handwerks geleistet haben. Mit seinem Fresko möchte Onur die Menschen in der Region auffordern, gute grenzübergreifende Beziehungen zu pflegen. Es steht ganz im Zeichen der von der UNESCO verliehenen Auszeichnung, die dem Know-how im Bereich der Uhrenmechanik und der Kunstmechanik, einer symbolträchtigen Tradition des französisch-schweizerischen Jurabogens, Geltung verleiht. Im benachbarten Frankreich, genauer im Haut-Doubs (derzeit das «Pays Horloger»), entwickelt sich die Uhrmacherei ab Mitte des 18. Jahrhunderts. Hiervon profitiert auch der Nachbar Schweiz, der Komponenten und Fachkräfte aus der Region bezieht. Im Laufe der Zeit verbreitet sich das Wissen der Schweizer Uhrmacher in der ganzen Welt. So steigt Besançon bei der Weltausstellung 1860 dank der Schweizer Uhrmacher, die sich dort im Jahr 1793 niedergelassen hatten, zur französischen Uhrmacherhauptstadt auf: Damit schliesst sich der Kreis des Austauschs von Uhrmacherwissen zwischen Frankreich und der Schweiz.

LE LOCLE UND DIE ETABLISSAGE

Bereits 1601 reichte der Ruf der «Genfer Uhrmacherei» weit über die eidgenössischen Grenzen hinaus. In der Calvin-Stadt des 17. Jahrhunderts lieferten sich unzählige Uhrmacher einen harten Konkurrenzkampf, was einige von ihnen dazu veranlasste, sich in anderen Städten des Jurabogens von Genf bis Schaffhausen niederzulassen. Die vielen in Le Locle ansässigen Uhrenmarken stellen Le Locle gerne als «Wiege der Uhrmacherei» dar. Vor dem Hintergrund der vorgenannten historischen Fakten könnte man meinen, dass diese Behauptung historisch völlig an den Haaren herbeigezogen, ja vielleicht sogar eine reine Erfindung zu Marketingzwecken ist. Betrachtet man die Entwicklung und die Geschichte dieser Handwerkskunst jedoch unter dem Blickwinkel des Produktivismus, ergibt sie wieder Sinn. Ende des 17. Jahrhunderts entwickelte sich in Le Locle nämlich auf Betreiben von Daniel JeanRichard (1665-1741), der Legende nach ein autodidaktischer Uhrmacher, die Etablissage. Die Etablissage ist ein Fertigungssystem, bei dem die Arbeitsschritte auf eine Vielzahl kleiner unabhängiger, auf die Herstellung von Uhrenkomponenten spezialisierter Werkstätten aufgeteilt werden. Diese Arbeitsorganisation markierte den Beginn der Industrialisierung der Branche. Dies ist der Grund, warum Le Locle zweifellos einen ganz besonderen Platz in der Geschichte der Uhrmacherei einnimmt.

© exomusée – April 2022 – Redaktion: François Balmer – Übersetzung: Proverb, Heiler & Co

Rue Jehan Droz

DER MYTHOS VOM AUTODIDAKTISCHEN UHRMACHER

Daniel JeanRichard sieht zum ersten Mal im Leben eine Uhr.

Daniel JeanRichard (1665-1741) wird in La Sagne, einem Nachbarort von Le Locle geboren. Nach einem 1766 in einem Reiseführer erschienenen Bericht soll es ihm mit 15 Jahren gelungen sein, die kaputte Uhr eines Pferdehändlers, eine aus England stammende Uhr, zu reparieren. Ein Jahr später, nachdem er den Mechanismus nachgebaut hatte, soll er – vollkommen autodidaktisch – eine Taschenuhr konstruiert haben, die allererste Uhr dieser Art, die in den Neuenburger Bergen hergestellt wurde.

Es gibt bis heute keine historischen Dokumente, anhand derer sich der genaue Werdegang von Daniel JeanRichard nachvollziehen lässt. Bevor er Uhrmacher wurde, war er Schmiedelehrling in La Sagne, einem Nachbarort von Le Locle. Zu der Zeit, als er sein Kunsthandwerk ausübte, gab es in den Neuenburger Bergen bereits um die hundert Uhrmacher. Trotzdem gilt er als Vater der Uhrenindustrie im Kanton Neuenburg – zum Nachteil seiner Vorgänger, die in Vergessenheit geraten sind. Ende des 17. Jahrhunderts war der Uhrmacherberuf streng geregelt. Um ihn auszuüben, musste man einen notariellen Vertrag unterschreiben und fünf Jahre bei einem Meister in die Lehre gehen. Um danach Uhrmachermeister zu werden und selbst unterrichten zu dürfen, musste man in die Zunft aufgenommen werden und sich ihres Vertrauens würdig erweisen. Die Tatsache, dass Daniel JeanRichard zahlreiche Lehrlinge ausgebildet hat, lässt vermuten, dass er den damaligen Berufsbildungsweg beschritten und absolviert hat.

Ob in Ländern, Regionen oder Städten – Gründungsmythen sind für die jeweilige Bevölkerung identitätsstiftend und tragen zur Attraktivität eines Gebiets bei, da sie Charme und Urtümlichkeit vermitteln. Die Darstellung von Daniel JeanRichard als eine Art Genie ist zweifellos in dieselbe Kategorie einzuordnen wie der Mythos vom Uhrmacher-Bauern, der die Findigkeit und den Unternehmergeist der Bewohner des Neuenburger Juras preist.

© exomusée – April 2022 – Redaktion: François Balmer – Übersetzung: Proverb, Heiler & Co

- DER KÜNSTLER -

Onur Dinc

Onur Dinc wird 1979 in Zurchwil im Kanton Solothurn geboren. Die Leidenschaft für die figurative Malerei wird ihm zunächst von Emel, seiner grossen Schwester, vermittelt. Emel allerdings – obwohl recht talentiert – gibt die Malerei im Erwachsenenalter endgültig auf.

Werden künstlerische Berufe bereits in gut situierten Familien bisweilen als wirtschaftlich riskant und zur Sicherung des Lebensunterhalts ungeeignet betrachtet, gilt dies in finanziell schwächeren Familien erst recht. So wurde Onur, als er als junger Mann entschied, Maler zu werden, von seinen Eltern nicht gerade ermutigt. Sein Vater, vom harten Leben als türkischer Einwanderer und Fabrikarbeiter geprägt, versteht nichts von der Kunst und sieht die künstlerischen Ambitionen seines Sohnes skeptisch.

Onur Dinc jedoch lässt sich durch die Bedenken seiner Eltern nicht von seinem Weg abbringen: Er macht eine Malerlehre und erlernt dann vier Jahre lang als Bühnenmaler in Solothurn die Szenografie. Anschliessend macht er bei der Basler Werbeagentur FAVO eine dreijährige Ausbildung zum Grafiker, ein Beruf, den er danach in Bern ausübt, allerdings nur ein Jahr lang. Mit 27 Jahren beginnt Onur, seine Werke in den grössten Schweizer und deutschen Städten auszustellen. 2007 arbeitet er ein letztes Mal als Bühnenmaler, dieses Mal in Luzern, bevor er sich im Jahr darauf entschliesst, sich ganz seiner Kunst zu widmen.

2008 eröffnet sich ihm die Welt der Street-Art. Seine Begegnung mit Remo Lienhard – ein Maler-Genie, bekannt unter dem Namen WES-21 – und Pascal Flühmann, alias KKADE (Gründer des Schweizer Künstlerkollektivs «Schwarzmaler» und Mitglied des berühmten kalifornischen Künstlerkollektivs «The Seventh Letter»), lässt in ihm den Wunsch wachsen, seine Kunst in den öffentlichen Raum zu tragen. Schnell entwickelt sich zwischen den drei Protagonisten eine tiefe künstlerische Verbundenheit und es folgen zahlreiche gemeinsame Projekte, insbesondere zwischen Onur und WES-21. Das Duo tut sich mit der Schaffung monumentaler Fresken in Basel (CH), Paris (FR), Berlin (DE), Reykjavík (IS), Aalborg (DK), Budapest (HU), Gemona del Friuli (I), Lagos (PT) und in US-amerikanischen Grossstädten wie Miami, Rochester, Richmond und New York hervor … und die Liste der von Onur im Rahmen von Gemeinschaftsprojekten oder als Solokünstler realisierten Fresken wird immer länger.

Wenn Onur nicht gerade auf einer Hebebühne oder einem Gerüst steht, hält er sich abwechselnd in Solothurn, seinem Heimathafen, und in Berlin auf. Wenn er sein Atelier verlässt, dann in der Regel, um grossflächige Werke zu schaffen. Sein künstlerischer Ansatz steht dem Ansatz des autodidaktischen Graffitikünstlers diametral entgegen: Wenn der vom Fotorealismus beeinflusste Neo-Wandmaler im öffentlichen Raum arbeitet, dann geschieht das ganz legal. In diesem Sinne ist seine Arbeit eher urbane Kunst als Street-Art, die ja «unbefugt» im öffentlichen Raum stattfindet. Heute kann Onur gut von seiner Kunst leben. Seine Arbeit wurde in Videoclips des bekannten deutschen Rappers Kool Savas gewürdigt. Obgleich er seine Kunst nicht gerne in den Dienst von Wirtschaftsunternehmen stellt, hat er für den Automobilhersteller Volvo im Rahmen einer weltweiten Werbekampagne oder auch für den Fernsehsender Canal+ gearbeitet. Wenn er sein Geld auch hauptsächlich mit dem Verkauf von Bildern und Drucken verdient, so liebt er es doch, auf der Strasse zu arbeiten, da der öffentliche Raum viel mehr Gelegenheit zum spontanen Austausch mit den Menschen bietet als Galerien oder Museen. Am liebsten arbeitet er mit Pinsel, Bürste und Farbroller. Seine Pinselführung, das Ergebnis einer präzisen und zugleich freien Technik, verschwindet immer mehr, wenn man sich vom betrachteten Werk entfernt. So wirken seine Bilder aus der Ferne (noch) realistischer. Man erkennt, mit welcher Genauigkeit der Künstler jeden Pinselstrich gesetzt hat. Manchmal arbeitet Onur auch Leuchtfarbe in seine Fresken ein, damit sie in der Dunkelheit leuchten.

Onur ist der Meinung, dass die Kunst die soziologischen Verhältnisse spiegeln sollte und sieht es als Aufgabe der Künstler an, die Gesellschaft zu kommentieren und aufzurütteln. Sein Interesse an der künstlerischen Darstellung leitet sich aus dem Wunsch ab, mit philosophisch gehaltvollen und häufig metaphorischen Bildern eindringliche Botschaften zu vermitteln. Der Schaden, den der Mensch der Natur zufügt, die Auswüchse des Konsumdenkens, die Neurosen der modernen Zeit, der alltägliche Unverstand und das Leiden der Tiere – all das sind Themen, die Onur zu seinen Werken inspirieren.

Als Künstlernamen hat Onur Dinc ganz einfach seinen Vornamen gewählt – und das Patronym weggelassen. Dieser in der Türkei sehr geläufige Vorname, der «Ehre» «Selbstachtung» und «Würde» bedeutet, war für diesen Virtuosen, der zu den bedeutendsten Schweizer Street-Art-Künstlern zählt und dessen Bekanntheitsgrad unaufhörlich steigt, wie geschaffen. Rückblickend ist Onur froh, dass er seine Eltern überzeugen konnte, dass sein Weg der richtige ist, und er so seinem Vornamen alle Ehre machen konnte.

© exomusée – April 2022 – Redaktion: François Balmer – Übersetzung: Proverb, Heiler & Co

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