Mazatl

[MX]

- DAS WERK -

Ahnenatem

TITEL: Ancestral Breath [Ahnenatem]

TECHNIK: Pinsel

ENTSTEHUNGSJAHR: 2022

STANDORT: Rue des Envers [Garage vor Nummer 9]

FLÄCHE: 37 m2

Schmuggel

Die Neuenburger Berge haben eine 70 km lange gemeinsame Grenze mit Frankreich. Im 18. Jahrhundert waren sie Schauplatz einer besonders intensiven Schmuggelaktivität. Damals bestand ein Trick der Schmuggler darin, einen Hund über die Grenze zu bringen und ihn einem Komplizen anzuvertrauen, der ihn mehrere Tage lang einsperrte und ihm kein Futter gab. Dann wurde das Tier mit einem Geschirr ausgestattet, an dem Säcke mit verbotenen oder steuerpflichtigen Waren wie Salz, Zucker, Kaffee, Tabak, Spitzen und Stoffen, Jagdpulver, Streichhölzern, Spielkarten oder goldenen Uhren befestigt wurden. Wenn man das hungrige Tier freiließ, musste man ihm nur einen « ordentlichen Schlag mit dem Knüppel » geben, damit es in Windeseile zu seinem Herrchen zurückkehrte.


Diese nicht mehr übliche Praxis, die einem historischen Kuriosum gleicht, konnte den Mexikaner Mazatl nur inspirieren. Er ist ein leidenschaftlicher Verfechter der Tierrechte und Liebhaber erstaunlicher Geschichten, ein Neomuralist, der weltweit für seinen Symbolismus und seinen grafischen Stil, der an Gravuren erinnert, auf Holz oder Linoleum, bekannt ist. Auf dieser 37 m2 großen Wand liefert uns Mazatl eine Metapher über das Innere eines dieser Hunde, die einst gezwungen waren, verschiedene Waren über die französisch-schweizerische Grenze zu schmuggeln, auf die Gefahr hin, von Zollbeamten oder Jägern erschossen zu werden.

« Alle Sinne in Alarmbereitschaft, hält der Hund seinen Lauf am Waldrand an. Er spitzt die Ohren. Die Luft und das Geäst brummen vor Leben. Die schwarzen Stämme der Tannen knarren im Windstoß. Jetzt trägt der Wind nicht mehr den Geruch von Menschen mit sich. Instinktiv weiß der Hund, dass weit weg von den Menschen jedes Tier, jede Pflanze und jedes Sandkorn an seinem Platz ist. Aus dem Boden strömt eine starke, unsichtbare und ungreifbare Energie, die zuerst seine Gliedmaßen und dann sein ganzes Wesen erwärmt. Es ist die Lebenskraft seiner Vorfahren, deren Überreste die rotbraune Erde des Waldes nähren. Die wohlwollenden Geister der Ahnen fragen das Haustier nach seiner Loyalität gegenüber seinem Herrn, der manchmal zum Besten und oft zum Schlimmsten fähig ist. Wenn der Hund eines Schmugglers wegläuft, erscheint ihm die Aussicht auf Freiheit beneidenswerter als die eines Lasttieres, das für einen spärlichen Fressnapf sein Leben riskieren muss. Während sich in seinen Augen die aufziehenden Sterne spiegeln, träumt er von einem Leben ohne Stockschläge, ohne Ketten, ohne Halsbänder, die seinen Widerrist verletzen, und ohne Geschirre, die sein Rückgrat und seine Flanken martern. Der Wolf in ihm drängt ihn, dem Ruf des Waldes nachzugeben, aber sein Wunsch nach Freiheit scheitert an den Gewohnheiten, die in seinem Körper verankert sind und das Erbe von Tausenden von Jahren der Domestikation sind. »

Erbe

Dieses Fresko ist mehr als eine historische Begebenheit, es ist eine Parabel über den Lebenszyklus, das genetische und kulturelle Erbe und darüber, was angeboren und was erworben ist. Indem er daran erinnert, dass die Vergangenheit sowohl die Gegenwart als auch die Zukunft bestimmt, zollt der Künstler allen Geschöpfen Respekt, die Opfer gebracht haben, um ihren Nachkommen die Chance zu geben, das Leben fortzusetzen. « Jedes Lebewesen ist ein Glied im Kontinuum des Lebens. Es ist wichtig zu wissen, woher man kommt, um zu wissen, wer man ist und wohin man geht », erinnert sich der Künstler. Er glaubt, dass Menschen, die von Geburt an in Komfort leben, die Kämpfe vergessen, die frühere Generationen führen mussten, um eine Gesellschaft mit mehr Gleichberechtigung aufzubauen. Der Künstler ist sich des Reichtums seines geistigen und kulturellen Erbes bewusst und ist besorgt darüber, dass immer mehr Menschen von ihren Wurzeln abgeschnitten sind und dass der Individualismus die Familien zersplittert hat, denn Familienbande sind für ihn ein wichtiger Wert.

Xolotl und die Schmuggler-Hunde

Gemäß den religiösen Überzeugungen der Mesoamerikaner ist Xolotl ein Gott mit hundeähnlichen Zügen, der die Seelen der Verstorbenen in die Unterwelt, das unterirdische Gebiet der Toten, führt. Durch die Verbindung zweier Themen – erstens die Schmuggler-Hunde und zweitens die Verbindung zwischen den Lebenden und den Toten – schlägt der Künstler eine Brücke zwischen der Geschichte der Neuenburger Berge und der Mythologie seines Heimatlandes.

Der Tod

Auf seinen zahlreichen Reisen konnte Mazatl die Widerstandsfähigkeit der Völker im Umgang mit dem Tod ermessen. In Europa werden Skelette und Knochen oft als unheilvolle Symbole wahrgenommen, während sie in Mexiko Teil der Folklore sind. Während die überwältigende Mehrheit der Besucherinnen und Besucher des Exomuseums sein Wandgemälde geniesst, amüsiert sich der Künstler darüber, dass manche es morbide finden könnten. « In der westlichen Welt ist das Leben so bequem, dass man den Tod verdrängt. Er wird zu einem tabuisierten, schrecklichen oder zumindest störenden Thema. In der mexikanischen Kultur ist der Tod ein Teil des Lebenszyklus. Er wird nicht mit Verlust in Verbindung gebracht, sondern vielmehr mit dem spirituellen Erbe, das er mit sich bringt », betont Mazatl. Besteht ein fruchtbarer Boden nicht aus toten Pflanzen? « Für die Bewohner von Paris, New York oder London ist der Tod ein Wort, das man nie ausspricht, weil es auf den Lippen brennt. Der Mexikaner hingegen frequentiert ihn, verspottet ihn, trotzt ihm, schläft mit ihm, feiert ihn, er ist eine seiner Lieblingsbeschäftigungen und seine treueste Liebe », schrieb Octavio Paz in «Le labyrinthe de la solitude »  (Das Labyrinth der Einsamkeit).

El Día de los Muertos (Tag der Toten)

In Mexiko ist der Volksglaube verbreitet, dass Vorfahren und Verstorbene während des « el Día de los Muertos » (Tag der Toten) vorübergehend auf die Erde zurückkehren, um ihre Angehörigen zu besuchen. Im Gegensatz zum christlichen Fest Allerheiligen, das einen dunklen und traurigen Tag heraufbeschwört, oder zu Halloween, bei dem die Menschen sich gruseln und das Jenseits als eine furchterregende Dimension betrachten, stehen die Feierlichkeiten zum « Día de los Muertos » für Volksfeststimmung, Farbexplosionen und Lebensfreude. Um die Verstorbenen zu feiern, werden ihre Lieblingsspeisen zubereitet. Friedhöfe werden zu Picknickplätzen, auf denen Kinder und Erwachsene um die Gräber und Altäre tanzen und singen, die zum Gedenken an die Verstorbenen errichtet wurden. Viele malen sich einen Totenkopf ins Gesicht und verkleiden sich als « calavera Catrina », ein weibliches Skelett in reicher Kleidung und oft mit Hut, oder als « calavera Catrín », die männliche Version.

Der seit Jahrtausenden gefeierte « el Día de los Muertos » hat seinen Ursprung in den Glaubensvorstellungen der prähispanischen Kulturen. Die Azteken, Tolteken und andere Nahua-Völker waren der Ansicht, dass Verstorbene durch Erinnerung und Geist « am Leben gehalten » werden und weiterhin Mitglieder ihrer Gemeinschaft bleiben. Daher gab es für diejenigen, die diese Überzeugungen teilten, keinen Grund, den Tod eines geliebten Menschen zu betrauern, und es war respektlos gegenüber den Toten, Trauer zu tragen.
Heute ist « el Día de los Muertos » mehr als ein Tag der Toten, sondern eine Gelegenheit, dem Leben der einheimischen Völker zu gedenken.

Spiritualität und Esoterik

Dieses Wandgemälde ist reich an esoterischen Symbolen. Goldene Schnörkel symbolisieren die spirituelle Gemeinschaft zwischen dem Schmuggler-Hund und seinem verstorbenen Vorgänger. Aus dem Maul des Säugetiers entweicht ein Ektoplasma. An der Spitze der Emanation bilden Blütenblätter einen Kelch, über dem die Seele des Tieres schwebt. Eine Spirale aus Energie, Mana, dreht sich in der linken Vorderpfote des Hundes.
Mazatl hat seine Komposition mit goldfarbenen Zikaden dekoriert. Diese Kreaturen verkörpern die Begriffe Übergang, Veränderung, Transformation (physisch, aber auch psychisch), Geduld, Widerstand und Erneuerung. Nach der Feng-Chui-Philosophie ist die Zikade ein Symbol für Unsterblichkeit, Glück und Wohlstand. Diese Insekten leben die meiste Zeit ihres Lebens unter der Erde, zunächst als Eier und später als Nymphen. Nach einer Zeit, die je nach Art von einigen Monaten bis zu 17 Jahren reicht, bahnen sie sich ihren Weg ins Freie und beginnen ihr Erwachsenenleben, das nur eine Saison dauert, in der sie sich paaren und die Weibchen Eier legen, die sie in der Erde vergraben. Ihr Gesang erinnert uns an die Notwendigkeit, für das Gemeinwohl zusammenzuarbeiten, wie Arbeiter, die gemeinsam singen, um sich Mut zu machen.

Mazatl ist der Ansicht, dass Tiere ebenso wie Menschen spirituelle Wesen sind, und lädt uns mit diesem Wandgemälde dazu ein, unsere Beziehung zur Tierwelt und unsere Neigung, sie zu unterwerfen und auszubeuten, zu überdenken. Sein tiefgründiges und mystisches Werk steht im Gegensatz zu dem des finnischen Künstlers Jussi TwoSeven, das Sie in der Gasse des Oratoriums bewundern können und das ebenfalls einen Schmuggler-Hund zeigt, jedoch auf eine leichtere, humorvollere Art und Weise.

© exomusée – Juli 2023 – Redaktion: François Balmer – Übersetzung: Wolfgang Carrier

Rue des Envers

- DER KÜNSTLER -

Mazatl

Texte in Bearbeitung

© exomusée – Oktober 2022 – Redaktion: François Balmer – Übersetzung: Wolfgang Carrier

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