Ardif

[FR]

- DAS WERK -

BLEISCHWERE FLÜGEL

TITEL: Du plomb dans l'aile [BLEISCHWERE FLÜGEL]

TECHNIK: SCHABLONENTECHNIK, SPRAY, MALEREI

ENTSTEHUNGSJAHR: 2019

STANDORT: Rue de la Gare

FLÄCHE: 24 m2

Erklärungen und Analysen der Werke werden im Rahmen von Führungen gegeben. >>> Link zum Anmeldeformular

Ardif, der die Paste-up-Technik meisterhaft beherrscht, hat sich dank seiner feingliedrigen, wie Spitzenstickereien von Licht durchbrochenen Werke und der Eleganz seines grafischen Universums – eine Hybridwelt, in der Natur und Technologie so gut als möglich nebeneinander bestehen müssen – internationales Renommee erarbeitet. Durch seine Faszination für die Kunstmechanik und die Uhrmacherei war er wie geschaffen dafür, eine «vergessene» Wand der Maison DuBois – einst eine der ersten Uhrenmanufakturen der Schweiz (1785 gegründet) – mit seiner Kunst aufzuwerten. Auf dieser Wind und Wetter besonders stark ausgesetzten Wand hat sich Ardif zum ersten Mal an der Malerei mit Mineralfarben versucht, um ein Werk zu schaffen, das länger Bestand hat als ein Paste-up-Bild. Dieses Werk, das der Künstler mit Schablonen skizziert und mit dem Pinsel vollendet hat, ist somit das allererste Fresko von Ardif.

Von Reptilien über Wirbellose und Säugetiere bis hin zu Vögeln: Mit seiner mechanischen Tierwelt zollt Ardif Tieren aus der ganzen Welt Tribut – manche vom Aussterben bedroht, andere bereits ausgestorben oder rein der Fantasie des Künstlers entsprungen. In Le Locle hat sich Ardif in seinem Kunstwerk der Krähe gewidmet, einem Vogel, der auf dem Land sehr verbreitet ist, aber auch in den Städten immer häufiger anzutreffen ist und den Menschen mit seinem krächzenden Geschrei und seinem pechschwarzen Federkleid zuweilen Angst einjagt.

Zu ihrem Leidwesen wird die Krähe häufig mit dem Raben verwechselt, der nach uraltem Aberglauben als «Unglücksbote» gilt. In den Augen von Ardif jedoch ist die Krähe gerade wegen der irrationalen Ängste, die sie bei den Menschen auslöst, ein besonders inspirierendes Tier.

Dieses Fresko von Ardif zeigt symbolisch die immer durchlässigere Grenze, die das Lebendige vom Leblosen, das Organische vom Anorganischen trennt. Zeigt uns der Künstler mit der Darstellung einer Hybrid-Krähe einen Vogel, der sich in einen kybernetischen Organismus verwandelt hat? Oder handelt es sich «schlicht» um eine mechanische Krähe, also einen mit Federn versehenen Automaten? Auch wenn die retrofuturistische Ästhetik von Ardif eher auf Letzteres hindeutet, ist die Idee von einem kybernetischen Organismus auch nicht völlig aus der Luft gegriffen, lassen sich Tiere heute doch mittels Biotechnologie in Cyborgs verwandeln.

EIN ALS KRÄHE VERKLEIDETER AUTOMAT

Federn treffen auf Leder und Metall. Armschwingen wurden durch etwas ersetzt, was zerrissenen Segeln oder den ausgefransten Flügeln einer Windmühle ähnelt. Muskeln und Kolben gehen ineinander über. Achsen und Räderwerke dienen als Gelenke. Vom Steampunk oder auch Jules Verne inspiriert, erinnert die von Ardif ersonnene Technologie an das Werk von François Junod. Junod, ein zeitgenössischer Schweizer Automatenbauer, ist ein Meister darin, Lebendiges mit rein mechanischen Mitteln nachzuahmen – ganz nach dem Vorbild seiner berühmten Vorgänger Jaquet Droz und François Lechot, zwei grosse Persönlichkeiten der für die Region so bedeutenden traditionellen Uhrmacherkunst. Die retrofuturistische Ästhetik von Ardif steht sinnbildlich dafür, dass der «Fortschritt» und die Veralterung in der Wissenschaft die zwei Seiten des Janus sind. [Janus ist der römische Gott des Anfangs und des Endes, der Wahl, des Durchgangs und der Türen. Er ist zweigesichtig, wobei ein Gesicht der Vergangenheit und das andere der Zukunft zugewandt ist.

Die Idee von autonomen Automaten oder Robotern ist beim Menschen schon sehr früh gereift. In der griechischen Mythologie beispielsweise konstruiert Hephaistos, der Gott des Feuers, der Schmiedekunst, der Metallurgie und der Vulkane, belebte Geschöpfe, von Menschen oder Tieren inspirierte Androiden, wie etwa ein für Zeus geschaffener Adler.

Der erste fliegende Automat, eine dampfbetriebene Taube aus Holz, wird Archytas von Tarent (435-347 v. Chr.) zugeschrieben.

Etwa im 3. und 2. Jahrhundert vor unserer Zeit war bereits das fröhliche Zwitschern der ersten, hydraulisch betriebenen Singvogel-Automaten zu hören – eine Erfindung des Ingenieurs Ktesibios (285 222 vor unserer Zeit).

Eine jüngere Arbeit, der Anfang des 19. Jahrhunderts von den Brüdern Rochat geschaffene, filigrane «Singvogel»-Spiegel, gilt als eines der bedeutendsten Stücke des Uhrenmuseums von Le Locle (MHL).

Der Gesang von Vögeln ist für Automatenbauer weitaus einfacher zu reproduzieren als eine menschliche Stimme. Dies ist wahrscheinlich auch einer der Gründe, weshalb der Vogel ein bei ihnen besonders beliebtes Tier war – und immer noch ist.

VOGEL-DROHNEN

Die mechanische Krähe von Ardif lässt unweigerlich an eine Drohne denken, sehen manche als Vögel getarnte Drohnen heutzutage doch täuschend echt aus. Ist man kein Vogelkundler, wird es bald kaum mehr möglich sein, einen Vogel von einer Vogel-Drohne zu unterscheiden – zumindest dann nicht, wenn es sich um ein «Spitzenprodukt» wie den vom niederländischen Unternehmen Drone Bird Company hergestellten Robird handelt. Diese Drohne, die den Flug des Wanderfalken äusserst realistisch nachahmt, wird eingesetzt, um Vögel, die Schäden anrichten könnten, zu erschrecken und zu vertreiben oder den Luftraum von Flughäfen, Standorte von Öl- und Gasunternehmen sowie weitläufige landwirtschaftliche Flächen zu überwachen. Die unauffälligen Robirds erleichtern Grenzkontrollen und unterstützen Polizei sowie Sondereinheiten bei ihrer Arbeit

2015 rief die chinesische Regierung ein Überwachungsprogramm mit dem Namen «Dove» (englisch für «Taube») ins Leben, um die Bevölkerung mithilfe von als Vögel getarnten Drohnen unbemerkt noch engmaschiger zu überwachen. Genau wie die Krähe von Ardif hat hier wohl auch die Taube, das Symbol für den Frieden, bleischwere Federn.

KYBERNETISCHE ORGANISMEN, ALIAS CYBORGS

Und wenn Ardif gar keinen Automaten in Form eines Vogels gemalt hat, sondern eine Krähe aus Fleisch und Blut, di

von einem Anhänger des Transanimalismus in einen Cyborg verwandelt wurde? Immerhin ist es heutzutage ein Kinderspiel, lebende Tiere in Cyborgs zu verwandeln. So verkauft das 2009 gegründete Startup Backyard Brains für die «bescheidene» Summe von 160 USD ein kleines Kit, mit dem man Küchenschaben «operieren» kann, um ihre Bewegungen über ein Smartphone zu steuern. Erreicht wird dies über ein von einer Mini-Batterie betriebenes elektronisches Gerät, das auf dem Rücken des Insekts befestigt wird … Wann sind wohl die Vögel dran?

CYBERPUNK-METAPHER

Science-Fiction-Fans können sich leicht vorzustellen, dass die Krähe des Künstlers von einer Art mechanischen Krätze befallen wird, einer neuen Virusform, die von der Maschine auf das Tier übertragen wird. Eine Mutation, entstanden durch die widernatürliche Vereinigung von Organischem und Anorganischem. Eine solche Anomalie könnte auch sinnbildlich für das Vorpreschen der Wissenschaft, eine vom Fortschritt diktierte Flucht nach vorne stehen. Eine düstere Zukunftsvision, die aus der Feder von Philip K. Dick, H.R. Giger, Jodorowsky und anderen Meistern der Science-Fiction-Szene hätte stammen können. «(…) ich möchte, dass man in meinen Bildern auch das Echte, das Natürliche sehen kann, denn das ist es, was den Gegensatz, den Dialog schafft. Viele betrachten meine Werke als eine pessimistische Vision, als Darstellung der Auswüchse des Fortschritts. Andere wiederum sagen mir, dass sie in meinen Bildern Robotertiere sehen. Alle Sichtweisen sind interessant, für mich sind es aber tatsächlich an Tiere angelehnte maschinelle Gebilde», unterstreicht Ardif, um dann fortzufahren: «Ich mag die Idee, dass meine Bilder die Fantasie der Menschen anregen. Street-Art gibt jedem die Möglichkeit einer ganz eigenen Interpretation der Werke.

© exomusée – Januar 2022 – Redaktion: François Balmer – Übersetzung: Proverb, Heiler & Co

Rue de la Gare

- DER KÜNSTLER -

ARDIF

Ardif wurde 1986 in Paris geboren. Nach einem abgebrochenen Mathematikstudium besucht er einen Vorbereitungskurs in Kunst, um sich Kenntnisse im Bereich Zeichnen und Kunstgeschichte anzueignen. Dabei wird ihm sein Interesse für die Architektur bewusst – eine Kunstform, die er bis dahin gemieden hatte, da er nicht in die Fussstapfen seines Vaters treten wollte. Nachdem er seine Bedenken hinsichtlich eines «beruflichen Erbes» über Bord geworfen hatte, beschliesst er, selbst Architekt zu werden. Am Ende seines Studiums gründet er mit Architektenfreunden das Kollektiv Concrete Balloons, dessen Arbeit darin besteht, von der Erkundung von Industriebrachen und alten stillgelegten Fabriken inspirierte Phantasmagorien zu schaffen. Ihre Zusammenarbeit mündet in eine Ausstellung mit dem Titel «Imachinarium». «Mein Interesse für etwas chaotische Strukturen stammt aus dieser Zeit», erklärt der Künstler. Dann kommt ihm die Idee zu seinem ersten Mechanimal: ein Tier halb Katze, halb Maschine. In den darauffolgenden Monaten erschafft Ardif ein ganzes Arsenal an Mechanimals. Der Künstler, der die Tierwelt als nie versiegende Inspirationsquelle sieht, malt grundsätzlich kein Tier zweimal. Die Entscheidung, Tiere darzustellen, entstammt seinem Wunsch, die Menschen mittels Figuren, die sie kennen und mögen, in seine Fantasiewelt, das heisst die Welt der Architektur und der Maschinen, mitzunehmen.

Aufgrund der Komplexität seiner Bilder und seines von Präzision geprägten Stils, den er sich beim Technischen Zeichnen angeeignet hat, bedient sich Ardif vorzugsweise der Schablonentechnik. Er erstellt seine Werke in seinem Atelier, um sie anschliessend in der Stadt auf Mauern und Wände zu kleben. Seine ersten kleinformatigen Paste-ups tauchen im September 2016 in den Strassen von Paris auf. Ardif mag die Fragilität der Paste-ups. «Die Vergänglichkeit der Bilder ist für mich genau das, was Street-Art ausmacht», betont der Künstler.

Seine Lust daran, sich auf der Strasse auszudrücken, rührt natürlich von seiner Leidenschaft für die Street-Art, aber auch von seiner Begeisterung für die Künstler des Nouveau Réalisme wie Jacques Villeglé, die Plakate abrissen, um sie in Museen auszustellen. «Als Architekt galt mein Interesse ja bereits der Stadt, ihrer Gestaltung und Neugestaltung. Als Künstler konnte ich nun dasselbe tun, war jedoch weniger an Normen und administrative Vorgaben gebunden, konnte freier arbeiten. Ausserdem wollte ich an dieser grossen Idee der «Kunst für alle» teilhaben, einer Kunst, die jedem Passanten unabhängig von seinem sozialen Hintergrund oder seiner Herkunft zugänglich ist. Genau so sollte sich Kunst meiner Meinung nach auf breiter Ebene darstellen.»

Von der Land Art, den Affichisten sowie Übervätern wie Jules Verne, Hayao Miyazaki oder Jean Tinguely beeinflusst und vom Technischen Zeichnen ebenso fasziniert wie vom Steampunk, sind die Werke des Künstlers häufig von Symmetrie, gleichzeitig aber auch von Dualität geprägt. Auf diese Weise hinterfragt er unsere Beziehung zur Natur und die Art und Weise, wie sie sich durch unseren unstillbaren Durst nach immer neuen Technologien verändert. «Was mich am meisten an der Symmetrie interessiert ist die Idee vom Gleichgewicht. (…) Hätte sich der Mensch nicht weiterentwickelt, wären wir noch in der Steinzeit. Technologische Neuerungen müssen natürlich dem Menschen dienen, dürfen aber nicht zu einer Ausbeutung der Natur oder zu künstlichen Veränderungen des Naturerbes durch den Menschen führen. Die Symmetrie steht also auch für eine Art des Gleichgewichts zwischen diesen Elementen», erklärt der Künstler. Seine tierischen Streifzüge durch den städtischen Raum sind auch eine Einladung an uns, wieder eine Verbindung zu unseren Urinstinkten und zur Tierwelt herzustellen.

Das internationale Schaffen von Ardif ist geprägt von zahlreichen Kooperationen, Ausstellungen und Performances in den Hauptstädten Europas, aber auch an beschaulicheren Orten wie Le Locle.

© exomusée – Januar 2022 – Redaktion: François Balmer – Übersetzung: Proverb, Heiler & Co
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